Friday, March 9, 2012

du bist zurück

Text: keos
Wahrscheinlich stimmt es wirklich: man vergisst Stimmen von Menschen, die einmal wichtig waren, nicht.
Wenn ich jetzt an diese Begegnung am letzten Samstag zurückdenke, ist es wie ein Film in Zeitlupe, ich höre dich meinen Namen rufen und drehe mich zu dir um, in Sekundenbruchteilen ist mir klar, wer da an der Hecke vor dem Garten meiner Eltern steht und ich bin mir glasklar bewusst, dass ich eine schlabbrige Jogginghose und ein verwaschenes T-Shirt anhabe.  Gleichzeitig mit der leisen Scham, die deswegen in mir aufsteigt, schimpfe ich mit mir selber und lasse keinen Zweifel daran, dass das egal ist, dass es dir egal ist und überhaupt: ich hätte wohl mit nichts weniger gerechnet als dich an der Hecke stehen zu sehen, an diesem sonnigen Samstag im Herbst. Sonst hätte ich mich anständig angezogen.
Also gehe ich in Socken über den Rasen, auf dich zu, hallo, sage ich, hallo, du... du? - Du lächelst, willst etwas sagen, als meine Mutter hinter mir fragt: "Kennt ihr euch?"
Vermutlich wäre es aufrichtiger, ich würde diese Frage mit "Nein" beantworten, aber sie würde mir wohl nicht glauben, schliesslich hast du meinen Namen über die Hecke gerufen. Aber wir kennen uns nicht wirklich, nicht mehr, denn wir haben zuletzt vor fünf Jahren miteinander gesprochen, als wir uns zufällig im Bus begegnet sind. Und davor, vor diesem Treffen, bei dem mir allein dein Anblick die Sprache raubte, davor hatten wir uns wohl mehr als sechs Jahre nicht gesehen. Nein, wir kennen uns nicht. Aber wir kannten uns.
Ich weiss nicht, wie bewusst dir das ist, aber du warst für eines der grossen Dramen meiner Teenagerzeit verantwortlich; das, was mir mit dir passierte, liess mich am Leben zweifeln, an der Gerechtigkeit sowieso, und noch mehr an mir selbst als das zu dieser Zeit  ohnehin dem Normalzustand entsprach. Ich war nicht das erste Mal verliebt, als ich mich in dich verliebte, aber es war so viel prägender als die Geschichten davor, dass ich in all den Jahren nie vergessen habe, wie es sich anfühlt, wenn du einen ansiehst.
Ich weiss noch, was ich anhatte, als ich dich am Stadtfest traf und weiche Knie bekam bei deinem Anblick, weil du nicht auf meinen Brief aus dem Urlaub geantwortet hattest, in dem ich dir meine Verliebtheit gestanden hatte. Da sind so viele Erinnerungsfetzen, wenn ich an dich denke, schwirren sie ungeordnet durch meinen Kopf, ungefragt, verwirrend und viel zu deutlich. Dein blau-weisses Hemd und deine gebräunten Arme, als ich hinter dir stand und auf den Beginn der Chorprobe wartete, immer wieder deine Stimme und wie wir im Zug auf dem Heimweg nebeneinander in den Sitzen kauerten, die Noten auf den Knien, Texte lernend. Wie du über die Wiese vor deinem Elternhaus auf mich zukamst, wie wir nebeneinander auf der Holzbank sassen und redeten, wie wir durch die engen, schattigen Gassen meines Dorfes spazierten, und wie du gelacht hast, als ich dir erzählte, wer uns alles gesehen und meine Mutter darauf angesprochen hatte. Unsere seitenlangen e-Mails, als es dir nicht gut ging und du mir von den Gesprächen mit deiner Therapeutin erzähltest, wie hilflos ich mich fühlte, wie schwierig das Antworten wurde, Post aus meiner heilen in deine so schmerzhafte Welt. Und da sind auch die alten Gefühle wieder, die Sehnsucht nach einem Lebenszeichen von dir, die Trauer, als der Kontakt irgendwann abbrach, und viel später das Verstehen, das Wissen, dass du mich zurücklassen musstest, als du in deine neue Welt aufbrachst, weil ich zur alten gehörte.
Und immer wieder habe ich in den letzten Jahren unsere Geschichte erzählt, manchmal, immer häufiger, mit einem Lächeln auf den Lippen, weil es auch eine gute Zeit war und ich heute nicht der Mensch wäre, der ich bin, wärst du mir nicht über den Weg gelaufen damals.
Wir waren so jung, so jung, dass ich heute manchmal denke, es war  einiges zu viel für uns, für dich mit Sicherheit, und ich würde uns beide vielleicht davor beschützen, wenn ich könnte, ich würde uns diese Tage ersparen, auch auf die Gefahr hin, dass wir heute nicht wären, wer wir sind.
Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du zurück kommst. Ich könnte es nicht, noch nicht, aber dass du es kannst, zeigt, wo du heute stehst.
gefunden bei jetzt.de

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